70. Internationale Filmfestspiele Berlin 2020
– eine Bilanz von Jürgen Prinz und Peter Huth

Berlin. Mit der Vergabe des „Goldenen Bären“ an den iranischen Wettbewerbsbeitrag Sheytan vojud nadarad (There Is No Evil – Es gibt kein Böses) von Mohammad Rasoulof sind am Samstagabend die 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin zu Ende gegangen.

Bereits zum 70. Mal lockte die Berlinale deutsche und internationale Prominenz in die Hauptstadt. Erstmals wurden die Filmfestspiele von einer Doppelspitze geleitet – Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und dem künstlerischen Direktor Carlo Chatrian. Der Italiener leitete vorher das Filmfestival in Locarno. Die Erwartungen an ihn und seinen Wettbewerb waren hoch. Doch von Anfang an stand die Jubiläums-Berlinale unter einem schlechten Stern. Die Eröffnungs-Gala wurde überschattet von den rassistischen Morden in Hanau. Schweigeminute – Gedenken an die Opfer und ihre Familien. Zum Feiern ist in diesem Moment kaum jemandem zumute. In ihrer bewegenden Eröffnungsrede erinnerte Kulturstaatsministerin Monika Grütters an Marlene Dietrich, den deutschen Weltstar, der sich den Nazis verweigerte und zieht Parallelen zur Gegenwart. „Niemals darf es eine Zusammenarbeit mit rassistischen und nationalistischen Kräften geben.“ Die Berlinale wendet sich gegen Gewalt und Rassismus und steht für Freiheit, Offenhei, Toleranz und Respekt.

Dann feierte das Festival im Kino die Vielfalt. Gleich 3 Filme im Wettbewerb erzählten Geschichten aus und über Berlin. Ein weiteres großes Thema war der Blick zurück: „Nicht weil wir rückwärts gewandt sind, sondern weil Erinnerungen wach gehalten werden müssen“ erläuterte Chatrian seine Konzeption. „Die Wettbewerbsfilme erzählen kleine oder weltbewegende, individuelle oder kollektive Geschichten, die Bestand haben und ihre Wirkung im Zusammenspiel mit dem Publikum entfalten.“

Zahlen und Daten : Auf der 70. Berlinale waren vom 20.–28. Februar insgesamt 342 Filme zu sehen. Im Wettbewerb konkurrierten 18 Filme um den Goldenen und die Silbernen Bären, darunter 2 deutsche Produktionen. Mit mehr als 335.000 verkauften Tickets und 22.000 akkreditierten Fachbesuchern ist die Berlinale nach wie vor das größte Publikumsfilmfestival der Welt. Die Festspiele haben einen Gesamtetat von 27,2 Mio. Euro und werden institutionell mit 10,4 Mio. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.

Die Jury : Vorsitzender der Internationalen Jury war in diesem Jahr der britische Schauspieler Jeremy Irons. Seine Ernennung zum Jurypräsidenten war nicht unumstritten, hatte es doch im Vorfeld der Berlinale Kritik zu seinen früheren umstrittenen Äußerungen zur Abtreibung und zur Homo-Ehe gegeben.
So nutzte er dann auch am Tag der offiziellen Vorstellung der Jury die Gelegenheit eine persönliche Erklärung abzugeben und sprach sich unmissverständlich gegen jegliche Unterdrückung von Frauen und für sexuelle Selbstbestimmung aus.

Die weiteren Jury-Mitglieder: Die argentinisch-französische Schauspielerin Bérénice Bejo, die Kölner Produzentin Bettina Brokemper, die palästinensische Regisseurin Annemarie Jacir, der amerikanische Drehbuchautor Kenneth Lonergan, der italienische Schauspieler Luca Marinelli sowie der Brasilianer Kleber Mendonça Filho, der zuletzt als Kritiker und Regisseur arbeitete.

Der Berlinale-Eröffnungsfilm : Mit der Buchverfilmung „My Salinger Year“ von Philippe Falardeau wurde die diesjährige Berlinale eröffnet. Er ist eine liebevolle Verbeugung vor dem geschriebenen Wort und beruht auf den autobiografischen Erinnerungen von Joanne Rakoff, die tatsächlich Autorin geworden ist und ihre Anfänge 2014 in diesem Buch verarbeitet hat. Der kanadische Regisseur Philippe Falardeau erzählt darin vom Literaturbetrieb im New York der 1990er Jahre. Joanna verlässt nach einem Literaturstudium ihre kalifornische Heimat und ihren Freund, um in New York endlich ihren Traum zu verwirklichen, Schriftstellerin zu werden. Sie nimmt zunächst einen Job als Assistentin einer berühmten Literaturagentin an. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, sämtliche Briefe, meist Fanpost, an den berühmten Autor J.D. Salinger (Der Fänger im Roggen!) zu lesen, mit dürren Standardsätzen zu beantworten und dann zu schreddern. Seien sie auch noch so herzzerreißend. Geduldig nähert sich die junge Frau ihrer eigentlichen Berufung: Sie will Schriftstellerin werden. Getragen von der wunderbaren Hauptdarstellerin Margaret Qualley erzählt dieser kleine kluge Film von der Schwierigkeit des Erwachsenwerdens, seine Träume beharrlich zu verfolgen um seinen Weg im Leben zu finden. Ein durchaus gelungener Auftakt des Festivals, es muss nicht immer großes Drama sein.

DER GOLDENE BÄR: Am Ende hat die Jury um Jeremy Irons alles richtig gemacht. Was man nicht von jedem Jahrgang behaupten kann. Sie vergab den „Goldenen Bären“ für den besten Film des Festivals an den iranischen Beitrag „Sheytan vojud nadarad“ (There is no evil – Es gibt kein Böses) von Mohammad Rasoulof. Sein brisanter politischer Film hatte am letzten Wettbewerbstag Kritik und Publikum gleichermaßen begeistert. Ein Film, den der Regisseur nur heimlich und an der Zensur vorbei realisieren konnte. In vier Episoden verhandelt er die Themen moralische Kraft und Todesstrafe und stellt die Frage, wie sich individuelle Freiheit angesichts eines despotischen Regimes und scheinbar unentrinnbarer Bedrohungen behaupten kann. „Es gibt kein Böses“ konnte nur heimlich und mit Unterstützung deutscher Fördertöpfe entstehen. Weil die Zensur bei Kurzfilmen nicht so scharf ist wie bei Spielfilmen, entschied sich Rasoulof zu der episodischen Struktur. Vier Kurzfilme, die nicht unter seinem Namen angemeldet wurden, sondern unter denen seiner Regieassistenten. Diese beweisen Mut, genauso wie die Schauspieler, der Kameramann, alle am Film Beteiligten. Weil sie wie die Filmfiguren die Verhältnisse nicht länger akzeptieren können. Weil sie für einen anderen Iran einstehen. Auch wenn sie dafür Konsequenzen fürchten müssen. Jurypräsident Jeremy Irons lobte den Film dafür, dass er „Fragen über unsere Verantwortung und Entscheidungen im Leben stellt“. Außerdem erhielt der Film den Preis der Ökumenischen Jury.

Mohammad Rasoulof selbst durfte nicht zur Berlinale anreisen, um seinen Film vorzustellen. Er hat Reiseverbot und wurde außerdem vor fünf Monaten zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, die er bislang noch nicht antreten musste. Stellvertretend für ihn nahm seine Tochter Ranan den Goldenen Bären in Empfang. Sie sei überglücklich und sehr traurig, dass ihr Vater nicht da sein könne, sagte sie, während der Saal den Regisseur mit stehenden Ovationen feierte. Zu Recht !

Die deutschen Filme im Wettbewerb :

UNDINE von Christian Petzold: Drei Filme lang begab sich Chritian Petzold in die deutsche Vergangenheit, nun kehrt er mit seinem neuen Film „Undine“ in die Gegenwart zurück. Hier im Berlin des 20. Jahrhunderts erzählt er eine Geschichte zwischen Mythologie und Realität, verwebt märchenhafte Motive mit einem skeptischen Blick auf eine Stadt, der ihre Geschichte eingeschrieben ist. So wie dem von Paula Beer und Franz Rogowski gespielten Liebespaar. Undine lebt in Berlin. Ein kleines Appartment am Alexanderplatz, ein Honorarvertrag als Stadthistorikerin, ein modernes Großstadtleben wie auf Abruf. Als ihr Freund Johannes sie verlässt, bricht eine Welt für sie zusammen. Der Zauber ist zerstört. Wenn ihre Liebe verraten wird, so heißt es in den alten Märchen, muss sie den treulosen Mann töten und ins Wasser zurückkehren, aus dem sie einst gekommen ist. Undine wehrt sich gegen diesen Fluch der zerstörten Liebe. Sie begegnet dem Industrietaucher Christoph und verliebt sich in ihn. UNDINE ist Christian Petzolds Neuinterpretation des Mythos der geheimnisvollen Wasserfrau Undine, die nur durch die Liebe eines Menschen ein irdisches Leben führen und eine Seele erlangen kann: Ein modernes Märchen in einer entzauberten Welt, die Geschichte einer Liebe auf Leben und Tod. Vielleicht liegt es an Paula Beers wenig variablem Gesichtsausdruck, an dem verklärenden Frauenbild oder vielleicht auch an den allzu losen Passagen zwischen Berliner Gegenwart und romantischem Mythos, dass sich kein Zauber einstellen will. Keine Verblüffung, kaum Staunen. Undine und Christoph irrlichtern nicht, bei aller Zärtlichkeit der Liebesgeschichte. Uns hat der Film nicht gefallen. Dennoch wurde Paula Beer wohl für viele überraschend als „Beste Darstellerin“ mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet.

BERLIN ALEXANDERPLATZ von Burhan Qurbani: Der Trugtraum vom guten Menschen. Mit „Berlin Alexanderplatz“ hat Burhan Qurbani Alfred Döblins Buchklassiker – knapp 90 Jahre nach der Erstverfilmung mit Heinrich George und 40 Jahre nach der legendären Serie von Rainer Werner Fassbinder mit Günter Lamprecht – radikal neu verfilmt. Er hat seinen Film kühn in die heutige Zeit verlegt. Und ins Flüchtlingsmilieu. Die Welt steht buchstäblich Kopf zu Beginn dieses Films. Zwei Menschen treiben entkräftet auf offenem Meer. Die Kamera filmt das aber verkehrt herum. Wer untergeht, steigt damit quasi direkt in den Himmel auf. Einer von beiden aber taucht wieder auf, erreicht mit letzter Kraft einen Strand und bricht dort völlig erschöpft zusammen. Sein altes Leben hat er hinter sich gelassen. Jetzt will er ein neues beginnen. Und fortan gut sein, so sein Schwur, ein neuer, ein besserer Mensch. Jella Haases Erzählerstimme aus dem Off erklärt aber sogleich, dass ihm das nicht gelingen wird. Dass der Neubeginn nur eine Gnadenfrist ist. Dass er in Berlin, wo er landet, drei Schicksalsschläge erleiden, dass er sich dort drei Mal wieder aufrappeln wird. Bis er endgültig untergeht. Der epochale Roman radikal neu und ganz aktuell. Die Hauptfigur Franz Biberkopf ein Flüchtling aus Westafrika namens Francis B.

„Berlin Alexanderplatz“ ist ein Statement gegen die Unmöglichkeit jeglicher Integration, von der in der Politik zwar allenthalben die Rede ist, die aber gerade durch die Mühlen der Behörden unmöglich gemacht wird. Wo nur der Ausweg bleibt, sich zu verkaufen, um den Traum vom Leben im reichen Westen zu verwirklichen. Weibliche Flüchtlinge, das zeigt Qurbani ebenfalls gleich zu Anfang, verkaufen ihren Körper. Die Männer ihre Seelen. Ein Statement gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung. Qurbani erzählt das in großen, starken Bildern. Er braucht drei Stunden für seine Geschichte. Und doch ist keine Minute langweilig. Im Berlinale-Wettbewerb, in dem ganz oft nur ganz kleine Geschichten erzählt wurden, ragt dieses Werk wie ein einsamer Monolith heraus. Bei der Bären-Vergabe ging dieser Film, für viele unverständlich, leider völlig leer aus. Schade ! Ab 16.04.2020 kommt Qurbanis Film in die deutschen Kinos. Unsere Empfehlung – unbedingt anschauen.

Ein weiteres Highlight im Wettbewerb :

FAVOLACCE von Fabio und Damiano D’Innocenzo: Die Brüder D‘Innoncenzo haben ihre Kindheit in einem Vorort von Rom verbracht. Dort spielt auch ihr erster Film im Berlinale-Wettbewerb. In „Favolacce“ (Bad Tales) wird aus der Idee eines behüteten Vororts geradewegs die Hölle auf Erden. Flirrende Hitze, zirpende Grillen, die Sonne flimmert über dem Teer, der Schweiß rinnt über die verbrannte Haut. Wir sind in einer Vorortsiedlung in Italien, bei Familien, die es nicht ganz nach oben geschafft haben – eine Art untere Mittelschicht. Es sind Sommerferien. Die Kinder haben Supernoten, der Papa hat gerade eine neue Seife auf den Markt gebracht und einen Pool gekauft, alles gut also? Nein. Nichts ist gut. Auch wenn „Favolacce“ auf einen düsteren Höhepunkt zusteuert, der Horror dieser Kleinstadtsiedlung ist ab der ersten Minute spürbar. Die Eltern haben eigentlich alles zum Leben, aber sie haben nichts im Griff. Die Männer sind aggressive Machos, die gemeinsam an Vergewaltigungsfantasien stricken und ihre Kinder schlagen. Die Frauen sind unbeteiligt und ignorant. Und doch sind alle furchtbar selbstmitleidig und zugleich selbstzufrieden. Der Meinung, dass sie ja so gute Eltern seien. Aber die Kinder sind schon tot, bevor ihr Leben wirklich begonnen hat. Die Körper jung und schön, aber die Augen matt, die Gesten leblos, die Gespräche ohne Regung. Sie sind nicht mehr als Abfallprodukte ihrer Eltern. Ohne emotionalen oder rationalen Halt taumeln sie durch dieses Leben. Das einzige, was diesen Kindern bleibt, um gehört und wahrgenommen zu werden, sind Extreme. Und wenn selbst die nicht mehr ausreichen, das Extremste. Wie kann so etwas passieren? Das fragen die D’Innoncenzo-Brüder nicht und geben in „Favolacce“ auch keine Antworten. Sie stellen einfach fest, dass dieser Horror existiert. Filmisch dicht und mitreißend erzählen sie ihre Geschichte mit radikaler Konsequenz.Verzweifelt sucht man in den leiernden Stimmen der großartigen Kinderschauspieler die Emotionen. Dabei ist schon zu Beginn des Films klar, dass für sie alles verloren ist. Es ist „eine wahre Geschichte, die auf Lügen basiert“ – das sagt der Erzähler am Anfang. „Es tut mir leid, dass Sie sich so etwas Unrealistisches anschauen müssen“, sagt er am Ende. Aber da hat einen das desillusionierte Menschenbild der D’Innoncenzos schon erwischt. Wenn wir das Kino verlassen, dann ist zwar dieser fürchterlich-fantastische Film zu Ende. Aber seine Geschichte geht weiter. Das ist brutal und kaum auszuhalten – ein großartiger Film. Das sah auch die Jury so und belohnte die Regisseure mit einem „Silbernen Bären“ für das „Beste Drehbuch“.

Der umstrittenste Film der Berlinale :

DAU.NATASHA von Ilya Khrzhanovski ist kein Film wie jeder andere. Zum einen ist er unter den einzigartigen Umständen eines gigantischen Kunst- und Filmprojekts entstanden, von dem er nur schwer losgelöst betrachtet werden kann. Und zum anderen stehen gegen den Regisseur Vorwürfe des Machtmissbrauchs im Raum. Für das Projekt „DAU“ ließ der Russe Khrzhanovskiy, finanziert von einem Oligarchen und mit internationaler Unterstützung, in der Ukraine eine sowjetische Stadt errichten. Drei Jahre lang lebte das Film-Team, darunter auch Fassbinders Kameramann Jürgen Jürges, dort wie zur Stalin-Zeit – in Gemeinschaftswohnungen aus der Zeit, mit den technischen Mitteln der Zeit, sogar in den Kleidern der Zeit. Laiendarsteller wurden gecastet, sie spielten dort keine Figuren, sondern lebten dort als sie selbst, in an die Stalin-Zeit angepassten Versionen – so auch Natalia Berezhnaya und Olga Shkabarnya, die beiden Hauptdarstellerinnen aus „DAU. Natasha“. Wissenschaftler zogen dort ein, die Performance-Künstlerin Marina Abramović, der Musiker Brian Eno und viele weitere Künstler waren beteiligt. 700 Stunden Filmmaterial nahm Jürges auf – aber es gab auch immer wieder Monate, in denen nichts gefilmt wurde, sondern im „DAU“Set einfach nur gelebt wurde. Aufbauend auf diesen drei Jahren, wollte Ilya Khrzhanovskiy im Oktober 2018 in Berlin einen Stadtteil mit wiederaufgebauter Mauer errichten, mit Visen als Eintrittskarten sollte man dort Filme aus dem Projekt ansehen können, vor allem aber in eine Welt eintreten, die das Leben unter einem totalitären Regime erfahrbar machen sollte. Das von Künstlern wie Tom Tykwer und Lars Eidinger unterstützte, von den Berliner Festspielen mitveranstaltete und auch von Kulturstaatsministerin Monika Grütters befürwortete Projekt scheiterte kurzfristig – weil die Behörden aus Sicherheitsgründen die Zusage verweigerten. Nach Berlin gekommen ist das Projekt nun doch noch – nicht als Event, sondern in Filmform. Während die Berlinale schon lief, veröffentlichte die TAZ vor einigen Tagen erschütternde Vorwürfen im Zusammenhang mit dem „DAU“-Projekt und den dabei entstandenen Filmen. Von Machtmissbrauch ist da die Rede, vor allem gegen Frauen. Von Gesprächen, in denen der Regisseur intimste Fragen stellte. Von einer mutmaßlichen Vergewaltigung am Set. Kritik gibt es auch an Khrzhanovskiys CastingEntscheidungen. Neonazis ließ er von echten russischen Neonazis spielen. Und in „DAU. Natasha“ wird ein KGB-Offizier, der die Hauptfigur verhört, von einem echten KGB-Offizier gespielt. Mit all dem im Hinterkopf sieht man „DAU. Natasha“ durch einen Filter. Die VerhörSequenz ist die wahrscheinlich am schwersten zu ertragende, die in einem Berlinale-Film in diesem Jahr zu sehen war. Der zweieinhalbstündige Film ist eine physische und psychische Tortur, die dem Zuschauer alles abverlangt. Dennoch entschied sich die Jury „DAU. Natasha“ einen „Silbernen Bären“ für die „Beste Kamera“ zu überreichen. Die hatte der 79-jährige deutsche Kameramann Jürgen Jürges geführt, ein Wegbereiter und Wegbegleiter des Neuen Deutschen Films. Er arbeitete u.a. mit Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders und Roland Klick zusammen und war 2003 eines der Gründungsmitglieder der Deutschen Filmakademie. Zum DAU-Projekt stieß er 2008 und lebte länger als drei Jahre am Set. Er filmte analog mehr als 700 Stunden. „Nur jemand, der seine Kunst wirklich beherrscht, konnte die langen Sequenzen mit improvisierenden Darstellern und schlechter Beleuchtung mit so viel Rhythmus und Bewegung einfangen“ begründete die Jury ihre Entscheidung.

Highlight ausser Konkurrenz :

PERSIAN LESSONS (Persischstunden) von Vadim Perelman: 1942 im besetzten Belgien. Gilles, ein junger Belgier, wird zusammen mit anderen Juden von der SS verhaftet und in ein Konzentrationslager nach Deutschland gebracht. Er entgeht der Exekution, indem er schwört, kein Jude, sondern Perser zu sein – eine Lüge, die ihn zunächst rettet. Doch dann wird Gilles mit einer unmöglichen Mission beauftragt: Er soll Farsi unterrichten. Hauptsturmführer Koch, Leiter der Lagerküche, träumt davon, nach Kriegsende ein Restaurant im Iran zu eröffnen. Wort für Wort muss Gilles eine Sprache erfinden, die er nicht beherrscht. Als in der besonderen Beziehung zwischen den beiden Männern Eifersucht und Misstrauen aufkommen, wird Gilles schmerzhaft bewusst, dass jeder Fehltritt ihn auffliegen lassen könnte. Gekonnt und mit sicherer Hand führt Regisseur Vadim Perelman bei diesem spannungsreichen Drama Regie. Ihm gelingt eine Meisterleistung: Persian Lessons hält die feine Balance zwischen einer respektvollen Darstellung der Schrecken der Shoah und einem Sinn für Ironie, der ein Schlüssel zum Überleben in irrsinnigen Zeiten sein mag. Es ist ein Film über Erfindungsreichtum, die Macht des Wortes und die Kraft der Erinnerung. Lars Eidinger als Sturmbannführer Koch und Nahuel Pérez Biscayart als jüdischer KZ-Häftling brillieren in einem mitreisenden Film, dessen tief bewegende Schlußszene in den Köpfen der Zuschauer lange nachwirkt : Der überlebende Gilles kann den verblüfften Befreiern seines Lagers Tausende Namen von Opfern nennen, deren Leben von den Nazis ausgelöscht und alle Beweise darüber vernichtet wurden. Weil er sie alle im Kopf hat. „Schindlers Liste“ umgekehrt: Todeslisten als Eselsbrücke.

Bewegende Dokumentarfilme :

SAUDI RUNAWAY von Susanne Regina Meures: Vielleicht der wichtigste politische Dokumentarfilm dieser Berlinale: Ein Film über eine junge Frau aus Saudi Arabien, die vor dem Diktat ihrer Familie und dem repressiven frauenfeindlichen System fliehen will. Mit dem Smartphone filmt sie sich und ihren Alltag in Saudi-Arabien. Wenn Muna in Mekka ein Selfie macht, sieht sie nur Schwarz: ihr Körper, ihr Gesicht sind unsichtbar unter dem Schleier. Muna will weg aus dem Leben, weg von dem Mann, mit dem ihre Familie sie zwangsverheiraten will, sie will nicht das Leben leben, was ihr Vater und ihr zukünftiger Ehemann ihr aussuchen. Frauen können in Saudi Arabien nicht selbstbestimmt leben, es gilt das männliche Vormundschafts-System. Der Tag der Hochzeit ist die letzte Chance für Muna, ihr Land und das vorherbestimmte Leben zu verlassen. In der Nacht flieht sie, die Handykamera läuft mit, als Werkzeug der Selbstreflexion und der Kommunikation mit der Außenwelt. Die Regisseurin Susanne Regina Meures hat ihre Protagonistin Muna übers Internet gefunden. Erst nach der Flucht lernten sich beide Frauen einander von Angesicht zu Angesicht kennen.

WALCHENSEE FOREVER von Janna Ji Wonders: Regisseurin Janna Ji Wonders – Absolventin der Filmhochschule München – erzählt auf eindrucksvolle Weise die Geschichte ihrer Familie, die ein ganzes Jahrhundert umspannt. Sie konzentriert sich dabei vor allem auf die Sicht der Frauen, von denen jede auf ihre Weise den patriarchalen Strukturen ihrer Zeit trotzt. Um den Geheimnissen ihrer Familie auf die Spur zu kommen, führt uns Wonders vom Familiencafé am bayerischen Walchensee über Mexiko nach San Francisco zum „Summer of Love“, zu indischen Ashrams, einem Harem und immer wieder zurück an den Walchensee. Entstanden ist eine aufregende Entdeckungsreise, die Fragen nach Identität, Heimat und Selbstverwirklichung stellt, wie auch die Suche nach Liebe, das Leben und den Tod thematisiert. Ab Herbst ist dieser großartige Dokumentarfilm in unseren Kinos zu sehen.
HOMMAGE und Goldener Ehrenbär 2020: Last but not least wurde die britische Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin Helen Mirren mit einem „Goldenen Ehrenbären“ für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Helen Mirren ist nicht nur eine der weltweit anerkanntesten Schauspielerinnen, sie war auch eine der jüngsten, die jemals in die berühmte Royal Shakespeare Company aufgenommen wurde. Ihre Ausstrahlung, ihre Ausdrucksstärke und ihre darstellerische Bandbreite stellt sie immer wieder in unterschiedlichsten Genres unter Beweis. Im Laufe ihrer Karriere wurde Helen Mirren unter anderem 2007 mit dem Oscar und dem Golden Globe als Beste Hauptdarstellerin für The Queen ausgezeichnet.
Was bleibt ? Leider gab es auch in diesem Jahr zu wenig herausragende Wettbewerbsfilme. Dieses chronische Problem wurde den früheren Berlinale-Leiter Dieter Kosslick lange angekreidet. Offenbar ist es jedoch strukturell: International scheint es immer weniger herausragende Filme zu geben, die drei großen europäischen Festivals Aufmerksamkeit und Qualität verschaffen können. Das Phänomen war zuletzt auch in Cannes und Venedig zu beobachten. Im Zeitalter von Streaming und einer erodierenden Kinowirtschaft wird das Filmangebot, aus dem sich Festivals wie die Berlinale speisen, künftig eher schrumpfen als wachsen. Die Masse an interessanten Filmen auf dem über Jahrzehnte gewohnten Niveau scheint schlicht nicht mehr vorhanden zu sein. An Glamour und Starfaktor auf dem „ Roten Teppich“ mangelte es nicht. Mit Sigourney Weaver, Omar Sy, Xavier Bardem, Selma Hayek, Elle Fanning, Willem Dafoe, Roberto Benigni und nicht zuletzt Johnny Depp war ein stattliches Ensemble der Einladung der Festivalleitung gefolgt, um ihre Filme persönlich in Berlin vorzustellen. Doch ein innovatives Filmfestival braucht mehr als den Glamour. Es muß offen sein für Risiken, Experimente und wenn nötig auch für Skandale, damit der „Rote Teppich“ der Berlinale eine besonderer bleibt. Wir wünschen der neuen Festival-Leitung, dass dies in 2021 gelingt.
Alle Preise der Internationalen Jury im Überblick :
GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM (an die Produzenten)
Sheytan vojud nadarad (There Is No Evil – Es gibt kein Böses)
von

Mohammad Rasoulof, produziert von Mohammad Rasoulof, Kaveh Farnam, Farzad Pak

SILBERNER BÄR GROSSER PREIS DER JURY
Never Rarely Sometimes Always von Eliza Hittman

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE
Hong Sangsoo für Domangchin yeoja (The Woman Who Ran | Die Frau, die rannte)

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN
Paula Beer in Undine von Christian Petzold

SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER
Elio Germano in Volevo nascondermi (Hidden Away) von Giorgio Diritti

SILBENER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH
D’Innocenzo Brothers für Favolacce (Bad Tales) von D’Innocenzo Brothers

SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG
Jürgen Jürges für die Kamera in DAU. Natasha von Ilya Khrzhanovskiy, Jekaterina Oertel

SILBERNER BÄR – 70. BERLINALE
Effacer l’historique Delete History von Benoît Delépine, Gustave Kervern

GOLDENER EHRENBÄR 2020
Helen Mirren

Weitere Infos unter www.berlinale.de