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Berlinale 2024 – Ein Festival bleibt sich treu – politisch bis zum Schluß

74. Internationale Filmfestspiele Berlin 2024

eine Bilanz von Peter Huth

Berlin. Mit der Vergabe des „Goldenen Bären“ an den französisch senegalesischen Wettbewerbsbeitrag DAHOMEY von Mati Diop sind am 24. Februar die 74. Internationalen Filmfestspiele in Berlin zu Ende gegangen. Die Berlinale blieb sich bis zum Finale treu: Geprägt von politischen Botschaften haben die Filmfestspiele ihre Auszeichnungen vergeben. Zum zweiten Mal in Folge gewann am Samstagabend ein Dokumentarfilm den wichtigsten Preis, den Goldenen Bären: Der Film „Dahomey“ von der in Frankreich geborenen Regisseurin Mati Diop setzt sich mit der Rückgabe von Raubkunst auseinander. Ein wichtiges Thema, aber ein Gewinnerfilm der Berlinale? Dabei gab es durchaus bessere Filme in diesem Jahr. Berlinale Filme die aufrütteln, Filme die bewegten, Filme mit Haltung.


Die Berlinale war in diesem Jahr besonders stark von politischen Debatten geprägt – bereits bei der Eröffnungsgala hatten viele Filmschaffende gegen Rechtsextremismus protestiert. Andere forderten ein Ende der Kämpfe in Gaza zwischen Israel und der Hamas. »Wir möchten, dass das Leid aller wahrgenommen wird, und mit unserem Programm verschiedene Perspektiven auf die Komplexität der Welt eröffnen«, erklärte die Berlinale-Führung um Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian im Vorfeld des Filmfestes.


Solidarität mit Gaza, Schweigen zur Hamas

Zu einem Eklat kam es bei der Preisgala als der palästinensische Filmemacher Basel Adra Deutschland aufforderte, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Der Preisträger warf Israel Völkermord und die »Schlachtung« Zehntausender Menschen vor. Über den Terror der Hamas sprach er nicht. Adra hatte mit drei anderen Filmemachern die Dokumentation „No Other Land“ gedreht und dafür den Dokumentarfilmpreis gewonnen. Der Film dreht sich um die Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern in den Dörfern von Masafer Yatta, südlich von Hebron im Westjordanland. Auf der Bühne wurde geklatscht, eine Einordnung erfolgte von keiner Seite. An anderer Stelle der Berlinale-Gala, trug der amerkikanische Filmemacher Ben Russell ein Palästinenser Tuch und sprach im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg von einem „Genozid“ des palästinänsischen Volkes durch Israel.

 

Heftige Kritik am Veranstalter
Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck (Grüne) kritisierte auf der Plattform X, dass dieser Auftritt beklatscht worden und unkommentiert geblieben sei. Das sei „ein kultureller, intellektueller und ethischer Tiefpunkt“ der Berlinale, schrieb Beck. Solche Auftritte seien unerträglich, kritisierte auch der Grünen Politiker von Notz. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) forderte sogar Maßnahmen und eine eindeutige Stellungnahme Berlinale-Leitung mit einem Bekenntnis zu Israel, damit das Festival keinen Schaden nehme. Auf einem offiziellen Kanal der Berlinale wurden Israel am Sonntag „ethnische Säuberungen“ und „Staatsterror“ vorgeworfen. Das Festival distanzierte sich und will Anzeige erstatten. Die Berlinale ist nach eigenen Angaben Opfer eines Hacker-Angriffs geworden. „Der Instagram-Kanal des Panoramas wurde heute gehackt und es wurden Statements zum Nahost-Krieg gepostet, die nicht vom Festival stammen und nicht die Haltung der Berlinale repräsentieren“, teilte das Filmfestival am Sonntagabend der Deutschen Presse-Agentur mit.



Zahlen und Daten:

Das Interesse am Festival war auch in diesem Jahr sehr groß: Rund 20.000 Akkreditierte, darunter 2.800 Medienvertreter*innen, aus 132 Ländern kamen nach Berlin, nahezu 350.000 Tickets wurden an das Publikum verkauft. Damit lagen die Besucherzahlen sogar über denen des Vorjahres. Im Wettbewerb konkurrierten dabei 20 Filme aus 30 Ländern um den Goldenen und die Silbernen Bären. Wegen der vielen Koproduktionen waren mehr Nationen am Wettbewerb beteiligt als Titel. Dazu gab es weitere 35 historische Beiträge in der Retrospektive, der Hommage und den Berlinale Classics zu sehen.

Mit zwei deutschen und insgesamt 4 deutsch co-produzierten Beiträgen, war der deutsche Film in diesem Jahr erneut stark vertreten. Neben 9 europäischen Produktionen wurde der Wettbewerb durch Filme aus Afrika, Südkorea, Iran, USA und erstmals aus Nepal komplettiert. Neben dem Wettbewerb präsentierte die Berlinale in 7 weiteren Sektionen eine große Auswahl an Filmen mit thematischen Schwerpunkten.


Die Mitglieder der Internationale Jury 2024:


Lupita Nyong’o (Kenia / Mexiko) – Jurypräsidentin

Regisseurin und Schauspielerin

Brady Corbet (USA)
Regisseur und Schauspieler


Ann Hui (Hongkong, China)
Regisseurin


Christian Petzold (Deutschland)
Regisseur, u.a. Silberner Bär 2023 für „Roter Himmel“

Albert Serra (Spanien)
Regisseur

Jasmine Trinca (Italien)
Regisseurin und Schauspielerin

Oksana Zabuzhko (Ukraine)
Schriftstellerin


EIN MÄßIGER WETTBEWERB

Wir sind besonders stolz auf unsere Kandidaten für den Goldenen Bären, weil sich unter ihnen lang geschätzte Filmemacherinnen und starke neue Stimmen die Waage halten“, erklärten die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der künstlerische Leiter Carlo Chatrian im Programmheft der diesjährigen Berlinale. Ein paar bekannte, wenn auch nicht berühmte Namen wie der Franzosen Bruno Dumont und Olivier Assayas, der Koreaner Hong Sangsoo, der Mauretanier Abderrahmane Sissako, die deutschen Regisseure Matthias Glasner und Andreas Dresen und sehr viele Filmtalente, die ihre ersten Regiearbeiten vorstellten. Auf dem Papier las sich das spannend. Auf der Leinwand sah die Sache dann anders aus. Das Zähe, Kitschige, Verworrene und gut gemeinte hatte im Wettbewerb der Berlinale das Übergewicht. Diesen Gesamteindruck konnten auch die wenigen guten Arbeiten, darunter die deutschen Beiträge, letztlich nicht korrigieren. Umso verwunderlicher, dass Andreas Dresens berührender Film IN LIEBE, EURE HILDE und der wohl beste Film im Wettbewerb MY FAVORITE CAKE aus dem Iran leer ausgingen.

DER GOLDENE BÄR: Die Berlinale-Jury unter dem Vorsitz der kenianischen Schauspielerin Lupita Nyong’o vergab den Goldenen Bären an Mati Diops Dokumentarfilm DAHOMEY. Es ist nach Nicolas Philiberts „Sur l’Adamant“ schon der zweite nichtfiktionale Hauptpreisgewinner in Folge. Ein deutliches Zeichen, dass mit der Wettbewerbsauswahl etwas nicht stimmen kann. Dass es dieser Film überhaupt in die Wettbewerbsauswahl geschafft hat, bleibt ein Rätsel. Der wichtigste Einfall der französisch-senegalesischen Regisseurin besteht darin, dass sie eine der sechsundzwanzig Statuen aus dem vorkolonialen Königreich Dahomey, die im November 2021 aus Paris an den westafrikanischen Staat Benin zurückgegeben werden, mit hohl tönender Off-Stimme über ihre Rückkehr aus langer Gefangenschaft sprechen lässt. Der Rest des Films zeigt Verpackungs- und Transportarbeiten, Ankunft am Flughafen, Begrüßungskomitees, Empfänge und eine öffentliche Diskussion, bei der es etwa um die Frage geht, ob man die Skulpturen ihren vormaligen rituellen Zwecken zuführen oder lieber weiterhin als Kunstwerke ausstellen soll. Auch mit den übrigen Auszeichnungen wollte man wohl möglichst nirgendwo anzuecken. Schütteln musste man sich aber bei der Vergabe des Jury Preises an den französichen Film L´EMPIRE von Bruno Dumont – einen der umstrittensten des Festivals. Dumonts Idee, eine „Star Wars“-Parodie in einem Küstendorf in der Normandie anzusiedeln, wirkte so „trashig“ und aufgeblasen verquast, dass man am Ende eigentlich nicht mehr wissen wollte ob „gut“ oder „böse“ am Ende die Herrschaft über die Erde erringt. Wie konnte eine Jury, in der nicht weniger als vier Filmregisseure saßen, die wenigen wirklich guten Regieleistungen übersehen?

Die deutschen Filme im Wettbewerb !
STERBEN von Matthias Glasner: Silberner Bär „Bestes Drehbuch“
Den wohl größten Beifall unter den Preisträger*innen erntete der deutsche Regisseur Matthias Glasner, als er mit dem Preis für das „Beste Drehbuch“ für seinen Film STERBEN ausgezeichnet wurde. Und es hätte nach Meinung vieler Kritiker und Pressevertreter auch mehr sein können/müssen. Zwölf Jahre nach „Gnade“ war Glasner endlich wieder mit einem neuen Film im Wettbewerb der Berlinale vertreten. In drei Stunden, drei Teilen und drei Perspektiven breitet er eine komplizierte Familiengeschichte aus – intensiv, persönlich und doch universell. Den Anfang machen die alten Eltern. Der Vater ist dement, irrt halb nackt und verwirrt draußen herum, und es wird klar, lange wird das so nicht mehr gehen, unbetreut zuhause. Die Mutter ist eine typische Corinna Harfouch-Rolle: mit einer abweisenden Härte, die im Laufe des Films langsam Risse bekommt, bis man sie vielleicht nicht unbedingt ins Herz schließt, aber doch ein bisschen besser versteht. Unwirsch wehrt sie alle Zuwendungen ab, verbittert und freudlos. Man spürt ihre Hilfsbedürftigkeit, wenn sie mit ihrem Sohn telefoniert, aber auch, dass sie sich lieber die Zunge abbeißen würde, als um etwas zu bitten. Ausgerechnet am Tag der Beerdigung seines Vaters, konfrontiert die Mutter ihren Sohn schonungslos direkt mit ihrer eigenen Krebsdiagnose und hängt gleich anschließend noch eine ernüchternde Analyse als lieblose Mutter dran. Zwischen der brutalen Härte der gesprochenen Worte und dem mimischen und gestischem Minimalismus in den Reaktionen tun sich die Abgründe auf, die in dieser Familie herrschen. Ein atemraubendes Schauspiel-Duett zwischen Corinna Harfouch und Lars Eidinger, das man so schnell nicht vergessen wird. Die dritte Perspektive gehört der Schwester. Sie ist Alkoholikerin, deren unkontrollierte Ausbrüche, die Familie schon zu oft erlebt hat. Mit jeder Faser ihres Körpers, jedem Ton ihrer brüchigen Stimme, ihrem Sprechgesang und dem Blitzen ihrer Augen verleiht Lilith Stangenberg dieser Figur eine verzweifelte Intensität. Irrlichternd schlingert sie zwischen schmerzlicher Selbstzerstörung und fragiler Verletzlichkeit und breitet auf diese Weise die verletzte Seele ihrer Figur auf der Leinwand aus. Das pralle Leben mit allen Tiefen und Höhen, mit Krankheit, Tod, Suff, Rausch und Ekstase, mit Melancholie und Depression hat Matthias Glasner in diesen Film gepackt. Dass macht ihn persönlich und zugleich universell. Eine intensive Erfahrung für die großartigen Schauspieler, aber auch für das Publikum.


IN LIEBE, EURE HILDE von Andreas Dresen
: Haltung im Abschied. Der zweite deutsche Wettbewerbsfilm erzählt die Geschichte NS-Widerstandskämpferin Hilde Coppi. Sie wurde 1943 in Berlin Plötzensee hingerichtet. Hilde und ihr Mann Hans Coppi engagieren sich ab 1942 im Widerstand. Hilde ist eher ängstlich, beteiligt sich aber immer beherzter an den Aktionen einer Gruppe, die man später die „Rote Kapelle“ nennen wird. Von diesem Punkt aus erzählt Regisseur Andreas Dresen in zwei Richtungen: in fahlen Bildern vorwärts über Hildes Zeit im Gefängnis bis zu ihrer Hinrichtung. Und in farbgesättigten Rückblenden zurück bis zu dem Punkt, an dem Hilde ihren zukünftigen Mann Hans Coppi kennenlernt. Über ihn gelangt sie in einen Freundeskreis von jungen Leuten aus verschiedenen Schichten, die sich gegen das Regime wehren. Sie dokumentieren NS-Verbrechen, kleben Zettel an Hauswände, verteilen Flugblätter und senden geheime Funksprüche. 1942 werden sie als Mitglieder der von den Nazis so titulierten „Roten Kapelle“ verhaftet. Bei ihrer Verhaftung ist Hilde im achten Monat schwanger. Im Gefängnis bringt sie ihren Sohn zur Welt und entwickelt eine Kraft, die ihr niemand zugetraut hätte. Aus dem schüchternen Mädchen vom Anfang ist eine Frau geworden, deren innere Größe andere beeindruckt. In seinem zutiefst menschlichen Film über Anstand, Liebe und Zivilcourage umschifft Regisseur Dresen bewusst die gängigen Nazi-Klischees. Weder sieht man Hakenkreuze noch schreiende NS-Schergen in Uniform. Im Grunde kommen alle, die das Regime repräsentieren, freundlich daher: der Gestapobeamte ebenso wie der Richter oder die Gefängniswärterin. Aber mitgemacht haben sie eben doch, sagte Andreas Dresen bei der Pressekonferenz der Berlinale. Ein berührender Film. In der Hauptrolle grossartig gespielt von „Babylon Berlin“-Star Liv-Lisa Fries. Leider wurde IN LIEBE EURE HILDE unverständlicherweise von der Jury nicht gewürdigt und ging leer aus.

Das Highlight im Wettbewerb:

KEYKE MAHBOOBE MAN (My Favorite Cake) von Maryam Moghaddam & Behtash Sanaeeha:

Ja es gab ihn doch, den großen Film im Wettbewerb. KEYKE MAHBOOBE MAN (My Favorite Cake) erzählt von einer 70 Jahre alten Frau in Teheran, die sich auf die Suche nach einer neuen Liebe macht. Ein tief berührender Film über Einsamkeit, Hoffnung und die Repressionen des iranischen Regimes. Mahin (Lily Farhadpour) ist einsam: Ihr Mann ist längst verstorben, ihre Kinder haben das Land verlassen. Als verwitwete Frau in ihrem Alter einen neuen Mann kennenlernen? Ein Tabubruch. Doch ein Gespräch beim Tee mit Freundinnen löst etwas in ihr aus. Mahins Blick auf die Welt verändert sich: Was, wenn sie es doch noch einmal wagt, mehr vom Leben zu wollen? Sie beginnt, ihre einsame Routine zu durchbrechen und nach neuen Bekanntschaften Ausschau zu halten. Kein leichtes Unterfangen, noch dazu in einem Land, in dem sich die Unterdrückung und Schikane von Frauen in den letzten Jahren immer weiter verstärkt hat. In einem Restaurant trifft sie auf einen ebenfalls alleinstehenden Taxifahrer in ihrem Alter und schafft es, ihn zu sich nach Hause einzuladen. Es kommt zu einer magischen Nacht, in der die beiden gegen ziemlich jedes Verbot der Sittenpolizei verstoßen. Dabei feiert das tragikomische Drama eine Rebellion purer Lebenslust, die angesichts der restriktiven Bedingungen umso heller erstrahlt.

Realitätsnahe Bilder von Frauen existierten im iranischen Kino nicht, so die wunderbare Hauptdarstellerin Lily Farhadpour, die auch als Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin arbeitet. Ein Hijab im Bett, das sei im Kino immer lächerlich gewesen; absurd sei auch, dass eine Mutter vor der Kamera ihren Sohn nicht umarmen dürfe. Farhadpour nimmt kein Blatt vor den Mund, kritisiert die iranische Regierung und spricht darüber, dass die Arbeit an der Komödie über eine 70-jährige verwitwete Frau, die sich einen Lover angelt, schon vor dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini 2022 begonnen hatte. Der Dreh erstreckte sich jedoch auch über die Zeit der Frauen- und Straßenproteste.

My Favourite Cake“ ist nach „Ballad of a White Cow“ (2021) der zweite Film der iranischen Filmemacher Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, der auf der Berlinale Premiere feierte. Für beide verhängte das Mullah­Regime ein Reiseverbot nach Berlin. In einem Statement, das die Schauspielerin Farhadpour an ihrer statt am Freitag verlas, widmeten die Regisseure den Film den protestierenden Frauen im Iran. Eines Tages, so hoffen sie, wird „My Favourite Cake“ auch in iranischen Kinos über die Leinwände laufen. Schade nur, dass ihn die Berlinale Jury vollkommen übersehen hatte. Ein mehr als würdiger Kandidat für den „Goldenen Bären“.

 

Ein aussergewöhnlicher Dokumentarfilm !

FAVORITEN von Ruth Beckermann: Frau Idiskut und ihre Klasse. Die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann hat eine großartige Schuldoku gedreht. In ihrem Dokumentarfilm begleitet sie Kinder der größten Wiener Volkschule und ihre engagierte Lehrerin Ilkay Idiskut über mehrere Jahre lang mit der Kamera. Hierbei wird die Lehrerin nicht als Ausnahmefigur dargestellt, sondern als akribische Arbeiterin in den engen Grenzen, die Gesellschaft und Bildungspolitik ihr stecken. Ihr Film ist nicht nur handwerklich gut gemacht – er berührt auf vielen Ebenen Kopf und Herz gleichermaßen. Der Wiener Stadtteil Favoriten, der als Namenspate dient, ist traditionell ein von der Arbeiterklasse geprägtes Viertel, in dem viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Er tut sich schwer damit, das Image eines sozialen Brennpunkts loszuwerden. Ein hoher Anteil der Bewohner:innen spricht nur mangelhaft Deutsch, lebt und arbeitet unter prekären Bedingungen. Auch im Bildungswesen liegt einiges im Argen. So leidet das Schulsystem unter einem gravierenden Fachkräftemangel, der sich umso massiver im „Problembezirk“ zeigt. Wo auch immer man hinschaut, fehlen Lehrkräfte, Sozialarbeiter:innen, Integrationshelfer:innen, psychologisch und pädagogisch geschultes Personal. „Unsere Idee war es, ein Bild der Realität im heutigen Europa zu zeichnen. Wien ist da keine Ausnahme. Also haben wir uns verschiedene Schulen angeschaut, in denen Kindern unterschiedlicher Herkunft zusammenkommmen“, erzählt Ruth Beckermann. Dabei haben wir die wunderbare charismatische, geduldige und liebevolle Lehrerin Ilkay Idiskut kennengelernt und für unseren Film ausgewählt. Die Vorbildfunktion der jungen Frau mit türkischen Wurzeln wird mit jeder Minute des Films deutlicher. Sie unterrichtet nicht nur, sie lebt den Kindern das sprichwörtliche Lernen fürs Leben vor. Immer wieder sucht Idiskut das Gespräch mit ihren Schüler:innen, die sie auf Augenhöhe und mit viel Respekt behandelt. Anstatt nur vorgefertigte Meinungen wiederzugeben und zuzulassen, tritt sie ein für eine echte Diskussionskultur. Szenen voller Menschlichkeit und Warmherzigkeit, die vom berührten Publikum nach der Premiere mit minutenlangem Applaus gewürdigt wurden. Ein großartiger Dokumentarfilm. Ausgezeichnet mit dem Friedenspreis der 74. Berlinale 2024.

GLANZ UND GLAMOUR:
Publikumswirksame Filme mit Staraufgebot. Das braucht ein gelungenes Festival. Waren genug Stars da? Das kann man in diesem Jahr nur bedingt mit Ja beantworten. Neben einer ansehnlichen deutschen Top-Schauspielr:innen Riege wie Liv Lisa Fries, Lars Eidinger, Corinna Harfouch und Ronald Zehrfeld sorgte immerhin die Präsenz von «Oppenheimer»-Darsteller Cillian Murphy, Kristen Stewart, Matt Damon, Adam Sandler Carey Mulligan, Gael García Bernal, Amanda Seyfried und nicht zu vergessen Meisterregiseur Martin Scorsese für den nötigen Glanz auf dem „Roten Teppich“.

Goldener Ehrenbär für Martin Scorsese !
Es gibt wohl kaum jemanden, der noch nie einen Film von Martin Scorsese gesehen hat. Am vergangenen Dienstagabend wurde der Meisterregisseur auf der Berlinale mit dem „Goldenen Ehrenbären“ für sein Lebenswerk geehrt. Kaum ein anderer hat diesen finsteren Ort so intensiv und exzessiv erforscht wie er. Der 81jährige US-Regisseur, dem die Filmwelt Meisterwerke wie „Taxi Driver“, „Good Fellas“ oder „Casino“ verdankt, Filme über die Mafia, das Böse und die Bandenkriege der Großstädte. Scorsese hat uns die Angst im Kino gelehrt, die Angst vor unseresgleichen. „Sein Blick auf die Geschichte und die Menschheit hat uns geholfen, zu verstehen und zu hinterfragen, wer wir sind, woher wir kommen,“ hatte das Leitungsduo des Festivals, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, bei der Bekanntgabe des Ehrenpreises für Scorsese im Dezember mitgeteilt. Im Berlinale Palast lauschte der Regisseur sichtlich bewegt der Laudatio von Wim Wenders, der ihn als einen „außergewöhnlichen Geschichtenerzähler“ und das „Markenzeichen“ eines halben Jahrhunderts Filmschaffens bezeichnete. Der deutsche Filmemacher und Dokumentarist betonte Scorseses unbändigen Kampfgeist für Unabhängigkeit und künstlerische Visionen. Um seinen Ideenreichtum muss man sich keine Sorgen machen. Der rastlose Regisseur hat bereits weitere Projekte in Arbeit – unter anderem Filme über
Roosevelt und Jesus.

Berlinale Kamera für Edgar Reitz !
Last but not least ehrte die Berlinale einen stillen Star des deutschen Kinos: Regisseur Edgar Reitz, der Weltbürger aus dem Hunsrück, erhielt die diesjährige Berlinale Kamera. In ihrer Laudatio bezeichnete die Festivalleitung den vielfach ausgezeichneten Filmemacher „als einen der einflussreichsten Filmemacher seiner Generation, der ein Werk geschaffen hat, das für immer ein Meilenstein in der Geschichte des Kinos bleiben wird“. Gemeint ist die über 50-stündige „Heimat“-Reihe, die überwiegend im fiktiven Hunsrück-Dorf „Schabbach“ spielt. Reitz, der seit den 50er-Jahren im Filmgeschäft tätig ist, mag eigentlich keine Preisverleihungen: „Ich bin nicht für das Große. Ich bin glücklich in meiner Wohnung und noch glücklicher, wenn ich etwas arbeiten kann. Als richtig empfinde ich immer, dass man alles, was man im Leben getan hat, mit einer Sinngebung verbinden kann. Und das Erzählen dieser Geschichte hat mir einen Lebenssinn gegeben“, sagt er. Und arbeiten – das machte er auch noch mit 91 Jahren. Nach Berlin hat er sein neues Werk „Filmstunde_ 23“ mitgebracht. Darin erzählt er von einem besonderen Filmprojekt: 1968 hatte er in der Schule seiner Tochter Grundlagen des Films unterrichtet und sich dabei filmen lassen. Bis heute sind die ehemaligen Schülerinnen – mittlerweile Seniorinnen – filmbegeistert und erzählen davon. Edgar Reitz mag in die Jahre gekommen sein. Aber noch ist der Begriff Ruhestand nichts für ihn. „Es gibt sozusagen aus diesem Blickwinkel, den ich mir erobert habe, immer wieder Neues zu erzählen“. Chapeau !

AUSBLICK:
Die 74. Berliner Filmfestspiele waren ein Erfolg, zumindest was die Zahl der Zuschauer angeht. Mit nahezu 350.000 verkauften Tickets, hat die Berlinale wieder so viel Zuspruch wie vor der Corona-Pandemie. Nach wie vor ist sie das meistbesuchte Filmfestival der Welt, und noch immer hat sie jenen Ruf zu verteidigen, der in den Sechziger- und Siebzigerjahren entstanden war und durch die Wiedervereinigung noch an Ausstrahlung gewonnen hatte. Aber dieser Ruf ist in Gefahr. Mit jedem Jahr, in dem der Wettbewerb des Festivals, so wie auch diesmal, hinter den Erwartungen zurückbleibt, nimmt die Bedeutung der Goldenen und Silbernen Bären innerhalb der Kinobranche ab. Für die Berlinale heißt das, dass ihre Hauptpreise für Schauspieler, Produzenten und Regisseure weniger attraktiv sind als die Auszeichnungen der Konkurrenzfestivals in Venedig und Cannes. Wenn aber der Goldene Bär keine Zugkraft mehr hat, wird langfristig auch das Interesse des Publikums abnehmen. Die Neubelebung des Wettbewerbs ist deshalb für die Berliner Filmfestspiele nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit.


Alle Preise der Internationalen Jury im Überblick :

GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM (an die Produzenten)

Dahomey von Mati Diop

SILBERNER BÄR GROSSER PREIS DER JURY

Yeohaengjaui pilyo (A Traveler‘s Needs) von Hong Sangsoo

SILBERNER BÄR PREIS DER JURY

L’ Empire (The Empire) von Bruno Dumont

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE

Nelson Carlos De Los Santos Arias für Pepe

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE SCHAUSPIELERISCHE LEISTUNG IN EINER HAUPTROLLE
Sebastian Stan in A Different Man von Aaron Schimberg

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE SCHAUSPIELERISCHE LEISTUNG IN EINER NEBENROLLE

Emily Watson in Small Things Like These von Tim Mielants


SILBENER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH

Matthias Glasner für Sterben (Dying) von Matthias Glasner

SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG

Martin Gschlacht für die Kamera in Des Teufels Bad (The Devil’s Bath)

von Veronika Franz & Severin Fiala

Weitere Infos unter
www.berlinale.de

*Bildrechte: ©Richard Hübner, ©Dirk Michael Deckbar, ©Sandra Weller, ©Richard Hübner, ©Ali Gandtschi, ©Ali Gandtschi,